Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Public History - ein spannendes Verhältnis. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V.

Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Public History - ein spannendes Verhältnis. Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V.

Organisatoren
Ludwig-Maximilians-Universität, Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte und Public History
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
07.09.2022 - 09.09.2022
Von
Hannes Liebrandt, Didaktik der Geschichte und Public History, Ludwig-Maximilians-Universität

Die turnusmäßigen Zweijahrestagungen der Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) bieten ein Forum für die aktuellen Debatten und Diskurse innerhalb der (vornehmlich) deutschsprachigen Geschichtsdidaktik in den Bereichen Theorie, Empirie und Pragmatik. Infolge der Corona-Pandemie lagen diesmal drei Jahre zwischen dem letzten Treffen in Essen (September 2019) und der diesjährigen Tagung in München, die vom Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte und Public History der LMU München ausgerichtet wurde. Im Laufe der Tagung, die im Übrigen mit einer Lehrkräftefortbildung verbunden war, sollte dem konstruktiven, genauso fordernden („spannenden“) Bedingungszusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur und Public History nachgegangen werden, Feldern also, denen sich die Geschichtsdidaktik immer schon oder neuerdings zuwendet und für die sie sich als auskunftsfähig erachtet. Im Call for Papers hieß es dazu, sicher sei, „dass nur eine Geschichte, die so vielfältig, partizipativ und diskursiv repräsentiert wird, wie es die plurale demokratische Gesellschaft ist, eine Chance auf Bedeutung und Anerkennung, sprich Zukunft“ besitze.

Im Eröffnungsvortrag ging denn auch der Veranstalter MICHELE BARRICELLI (München), Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte und Public History der Ludwig-Maximilians-Universität München, davon aus, dass Geschichtsdidaktik sozusagen nur in ihrer Erweiterung, was Forschungsfragen, Konzepte, Methoden und Partner betrifft, produktiv bleiben könne. Es gibt einen disziplinären Kern, der in der Reflexion von und der Auseinandersetzung mit Zeitpraktiken zum Zwecke der Orientierung besteht, wofür Kompetenzen in der Schule und genauso für die Gesellschaft an historischen Lern- und Erinnerungsorten aller Art zu vermitteln sind. Hier könne die Geschichtsdidaktik auf soziale Traditionen zurückgreifen, die - entgegen manch früherer Erwartungen - in der Gegenwart eher an Bedeutung gewonnen als verloren haben (z.B. das Begehen von Jubiläen, das Gedenken an Jahrestagen). Doch ist ungewiss, ob Wissenschaft und Gesellschaft die dafür entwickelten Begriffe immer wieder re-modellieren oder besser aufeinander beziehen oder sogar zur Deckung bringen sollen. Das Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie jedenfalls ließ nach seiner Etablierung in den 1970er Jahren die Disziplin schnell mit mehr Fragen als Antworten zurück, und die Erkenntnis, dass es sich empirisch so gut wie gar nicht fassen lässt, trug zu weiterem Überdruss bei. Heute aber ist man froh, es nicht zu schnell marginalisiert zu haben, denn nur mit ihm als Baustein lassen sich sinnvolle Verknüpfungen zu Geschichtskultur und Public History (die beide ebenso unter Unklarheiten der Definition leiden) herstellen. Im Übrigen betonte Barricelli auch die normative Seite allen Erinnerns: Gedenken ist eine Aufgabe, die durch Jahrestage nicht hervorgebracht, sondern nur klarer als sonst üblich herausgestellt wird. Die sechs wissenschaftlichen Sektionen der Tagung mit über 25 Einzelbeiträgen schlossen an diese Gedanken an, setzten aber auch eigene Schwerpunkte oder führten neue Gesichtspunkte ein. Sie können hier nur unvollständig betrachtet werden.

Die Sektion „Digitale Geschichtskultur“ diskutierte, inwiefern digitale Geschichtsrepräsentationen eine Nach- bzw. Neujustierung geschichtsdidaktischer Prinzipien wie Narrativität, Perspektivität, Lebensweltbezug, Emotionalität und Alterität einforderten. Zum Einstieg gab CHRISTINE GUNDERMANN (Köln) einen präzisen Überblick über die Funktionslogiken von Instagram. Sie verdeutlichte, dass zum tiefgreifenden Verständnis digital präsentierter Geschichte neben historischer Dekonstruktionskompetenz vor allem Wissen über Algorithmen, Datengenerierung, Datensicherung und Medienlogiken notwendig sei. HANNES BURKHARDT (Erlangen-Nürnberg) wendete sich deutlicher der Ebene der Chancen von Instagram für das (schulische) historische Lernen zu. Gerade aufgrund der Dynamik und Unmittelbarkeit sei Instagram nah an der Gegenwart und Lebenswelt Heranwachsender. Daneben, so zeigte Burkhardt anhand der posts um „Jana aus Kassel“ auf, könne das Medium Kontroversität abbilden und im Rahmen eines klugen Lehr-Lernarrangements zur Schulung historischer Urteilskompetenz beitragen. Das implizite und explizite Versprechen von Geschichtsrepräsentationen auf Instagram sei, so DARIO TREIBER (Wuppertal) in seiner Darstellung der empirischen Untersuchung jugendlicher Sinnbildungsprozesse anhand des Kanals „ich bin Sophie Scholl“, jenes einer emotionalen Ansprache und Involviertheit. Dies böte Chancen für historische Bildung, könne aber auch problematisch sein, wie JULIANE BRAUER (Wuppertal) in ihrem Beitrag zur Neudimensionierung von Geschichtskultur als digitalem Phänomen darstellte. Denn die Vertrautheit und Nähe zur Alltagswelt der Lernenden sei im Grunde nur eine Illusion. Die Annahme, man könne Geschichte als Potenzial offen erfahren, entstehe, so Brauer, infolge der Auflösung eines linearen Zeitverlaufes. Dass eine Neu-Dimensionierung von Geschichtskultur infolge veränderter Sinnbildungspraktiken durch Geschichtspräsentationen durch social media angezeigt wäre, konnte das Panel, so ASTRID SCHWABE (Flensburg) verdeutlichen. Zugleich zeigte sich gerade in der lebhaften Diskussion, wie groß die forschungspragmatischen Herausforderungen bei der Analyse der dynamischen digitalen Medien sind.

Die Sektion „Ernstfall Public History“ griff anfänglich den verbreiten Vorwurf der Unschärfe, der an die Kernbegriffe Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur gerichtet ist, produktiv auf und fragte, ob die Etablierung einer dritten Kategorie, der Public History, sinnvoll mit der Aufgabe einer potentiell allumfassenden Begriffsbildung betraut werden könne. Eine neue Definition hatte dieses Panel indes nicht zum Ziel, sondern es verfolgte eher explorativ das Vorhaben, dem Konzept aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive weitere Konturen zu verleihen und so Präzisierungen anzubieten. Noch zu unspezifisch schien den Teilnehmenden dabei die Bestimmung, bei Public History handele es sich, wie in der einschlägigen Literatur oft zu lesen, um jede mögliche Form der Geschichtsdarstellung, die sich an eine breite Öffentlichkeit richtet. Stattdessen wurden interdisziplinäre, erinnerungskulturell wie gesellschaftlich relevante Verwendungszusammenhänge von Public History als Tiefenbohrungen diskutiert mit Bezug zur aktuellen Dekolonisierungsdebatte (PHILIPP BERNHARD, Augsburg), Wissenschaftsgeschichte (NICOLA BRAUCH, Bochum) sowie Politik- und Diplomatiegeschichte (MORITZ PÖLLATH, München). Problematisch sei durchaus die Tendenz zur Exklusion oder Bedeutungsminderung der Geschichtswissenschaft bzw. der Versuch, Public History rein als Beschäftigung mit Vergangenheit außerhalb von Universität oder drittmittelgestützter Forschung zu konterkarieren. Es sei andererseits aber auch nichts gewonnen, wenn jene nur als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft verstanden würde. In den Vorträgen kam daher zum Ausdruck, dass sich Public History aus der intensiven und bewussten Interaktion zwischen der Forschung im Fach und dem öffentlichen Diskurs konstituieren müsse. Diesem Programm folgte eine engagierte Diskussion, in welcher die grundsätzliche Kritik daran aufgegriffen wurde, dass oder ob Public History als eigenständige Disziplin zu verstehen sei. Gerade die derzeit üblichen historischen Vergleiche im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine oder der Dekolonisierungsdebatte führten zu einem regen Gedankenaustausch und loteten beispielhafte Betätigungsfelder für die Public History und die Geschichtsdidaktik aus. Immerhin existiert mit letzterer zumindest im deutschsprachigen Raum bereits ein etablierter theoretischer Zugang zu Fragen des öffentlichen Gebrauchs von Geschichte.

In der Sektion „Agency in Geschichtskultur und Öffentlichkeit“ geriet die Überführung von Handlungsfähigkeit zu Handlungsmächtigkeit als Bedingung und zugleich Ziel der Partizipation an Geschichts- und Erinnerungskultur in den Blick. Die vier Beiträge betonten dabei die Relevanz einer machtkritischen Perspektive, was in der Moderation und dem späteren Kommentar von OLIVER PLESSOW (Rostock) durchaus deutlich wurde. CORNELIA CHMIEL (Berlin) reflektierte die dynamischen Strukturen der Geschichtskultur und verknüpfte empirische Befunde aus der Gedenkstättenarbeit mit Überlegungen zu geschichtskulturellem als per se gesellschaftspolitischem Handeln als einem emanzipatorischen Projekt. LALE YILDIRIM (Osnabrück) vertrat die These, dass aus kognitiver Orientierungsfähigkeit nicht zwingend Agency resultiere, und explizierte ihren Ansatz mit wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen, konkret dem Modell des „Marktes der Erinnerungen“. Hier fügte sich wie eine Operationalisierung die Betrachtung von NINA REUSCH (Berlin) über „Nachhaltigkeit“ als einen der aktuellen Topoi politischer Bildung an, in welcher sie kritisierte, dass der eher ahistorische Appell zu Konsumverzicht die unerlässliche Reflexion auf die gesellschaftliche Genese des aktuellen Ressourcenverbrauchs verhindere. JÖRG VAN NORDEN (Bielefeld) machte die Emanzipation vom gesellschaftlichen status quo an der Alterität der Vergangenheit fest. Historisches Denken, durch Neugier motiviert, könne zeigen, dass die Gegenwart nicht, wie im politischen Diskurs oft behauptet, alternativlos ist, sondern in eine offene, gestaltbare Zukunft mündet. Die Diskussion im Plenum drehte sich vor allem um die Frage, wie Agency, wenn sie emanzipatorisch gedacht werden soll, in diesem Bedingungsgefüge zu definieren sei und wie sich Handlungsmächtigkeit in Gesellschaft, Wissenschaft und Geschichtsunterricht herstellen und sichern lasse.

Die Sektion „Lässt sich Geschichtsbewusstsein (noch) erforschen?“ betonte zunächst noch einmal das Verdienst der Geschichtsdidaktik bei der Erforschung des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft seit den 1970er Jahren. Obwohl „Geschichtsbewusstsein“ in Theorie und Pragmatik nach wie vor zentral scheint und das Konzept nun auch im englischsprachigen Kontext durch seine Verschränkung mit Geschichtskultur verstärkt berücksichtigt wird, wurden die Fragen, inwiefern Geschichtsbewusstsein noch als ‚Zentralkategorie‘ gelten kann, welche Theorien für seine Konzeption grundlegend und welche Forschungsperspektiven dabei zielführend sind, ebenso kontrovers verhandelt wie die Frage, wie und mittels welchen Methoden (z.B. bildungswissenschaftliche vs. hermeneutische) dieser Gegenstand auch empirisch erforscht werden kann. Vor diesem Hintergrund formulierten SEBASTIAN BARSCH (Kiel) und MARTIN NITSCHE (Köln und Aarau) in ihrer Einleitung die These, dass Geschichtsbewusstsein bereits historisch und kaum geeignet ist, um geschichtsdidaktisches Denken im 21. Jahrhundert anzuregen. ANDREAS KÖRBER (Hamburg) stellte dem - vor dem Hintergrund einer historischen Skizze der Etablierung von „Geschichtsbewusstsein“ und des Ringens um Anerkennung „sensitiver Vergangenheit“ (z.B. des Holocaust) insbesondere im Kontext gesellschaftlicher Heterogenität - die Annahme gegenüber, dass das Geschichtsbewusstsein nur dann seine disziplinäre Funktion behalten kann, wenn es vornehmlich analytisch für die Erfassung von geschichtsspezifischen Umgangsweisen mit Vergangenheit genutzt wird. PAUL ZANAZANIAN (Montreal) wiederum machte das Potenzial von Geschichtsbewusstsein von der Zugänglichkeit für empirische Forschung abhängig; dafür stellte er eine Methodologie vor, die empirische Daten nutzt, welche die subjektiven historischen Sinnbildungen von Geschichtslehrer:innen und sozialen Schlüsselakteur:innen erkennbar werden lassen. JULIA THYROFF (Aarau) thematisierte Denkvorgänge (d.h. Aneignungsweisen) von Besuchenden einer Schweizer Ausstellung zum Ersten Weltkrieg. Dabei ging sie besonders darauf ein, inwiefern die Auseinandersetzung mit präsentierten Exponaten projektiv auf eine historische Identitätsbildung zurückwirkt. HANNAH RÖTTELE (Göttingen) stellte passend dazu die Frage, wie das Irritationspotenzial von Ausstellungsobjekten einerseits historisches Denken anregt, andererseits auch die ästhetisch-sinnliche Erfahrung im Museum Geschichtsbewusstsein beeinflusst.

In der Sektion „Zwei Seiten einer Medaille?“ wurde ausgehend von der im Titel genannten, von Bernd Schönemann geprägten Metapher das Ziel verfolgt, den Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur aus einer theoretischen und zugleich praxisbezogenen Perspektive neu zu profilieren. In der Einführung (HOLGER THÜNEMANN, Münster/HELEN WAGNER, Erlangen-Nürnberg) wurde zunächst deutlich, dass die Geschichtsdidaktik ihr Kategoriengefüge seit den 1970er Jahren zwar wesentlich erweitert, aber keiner grundlegenden Revision unterzogen hat. Anstatt nun aber lediglich einen versäumten Paradigmenwechsel zu monieren, plädierten Thünemann und Wagner dafür, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als geschichtsdidaktische Zentralkategorien zwar nicht zur Disposition stellen, sie aber einerseits hinsichtlich ihrer Entstehungskontexte zu historisieren und andererseits ihren inneren Zusammenhang theoretisch neu zu modellieren. Es gehe daher erstens darum, das Potential praxeologischer Ansätze auszuloten und zweitens das Ziel zu verfolgen, den geschichtsdidaktischen Diskurs für die in der Geschichtswissenschaft virulente Debatte über einen temporal turn zu öffnen, also die unterschiedlichen Formen temporaler Pluralisierung von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur zu problematisieren. ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) ging in diesem Sinne der Frage nach, inwieweit spezifische Begriffe wie „Chronoferenz“ und „Pluritemporalität“ dazu beitragen können, das Zusammenspiel zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur neu zu konturieren. Folgerichtig diskutierte HELEN WAGNER (Erlangen-Nürnberg) das Ziel der Zukunftsproduktion im Zusammenspiel von historischer Sinnbildung und soziologischem Strukturwandel. Auch SABRINA SCHMIDT-ZERRES (Münster) und MARKUS BERNHARDT (Duisburg-Essen) verschränkten in ihrer Untersuchung über Praktiken der Gegenwartsausdehnung in Geschichtsschulbüchern die Zeitdimensionen im Geschichtsbewusstsein produktiv. MANUEL KÖSTER (Münster) analysierte abschließend die Relevanz von Nostalgie als Zeitpraktik, was gleichermaßen auf den eigensinnigen Umgang mit Zeit in modernen Gesellschaften verweist. Die intensive Diskussion am Ende der Sektion zeigte, dass besonders ein „pluritemporales“ Verständnis (was freilich ein schwieriger Begriff ist) von Gegenwart als Knotenpunkt für die Verknüpfung von Vergangenheiten und Zukünften sowie die Frage nach der epistemischen Funktion und Notwendigkeit von Gegenwartsbezügen für das geschichtsdidaktische Kategoriengefüge anschlussfähig sind, nicht zuletzt weil das Zusammendenken von Zeitdimensionen im Prozess geschichtsdidaktischer Forschung auf Akte von Herrschaft und Macht verweist.

ANKE JOHN (Jena) und DANIEL MÜNCH (Jena) untersuchten in ihrer Sektion die „Historische Urteilsbildung zwischen Historisierung und Komplexität“. Ausgangspunkt war dabei die Annahme, dass historische Urteile zeigen, wie sich Individuen Kraft ihres Geschichtsbewusstseins orientieren, wobei die Geschichtskultur hierfür Gegenstand und Rahmen bildet. Die Sektion kreiste daher um die Frage, wie sich dieser komplexe Vorgang modellieren lässt, ohne an unflexiblen Schematisierungen festzuhalten, die die vielfältigen Orientierungsbedürfnisse und Erfahrungen der Lernenden ignorieren. Dies analysierten PETER STARKE und JOHANNES SCHMITZ (Jena) im Kontext des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, indem sie sechs professionelle Strategien bei Archivarin, Ahnenforscher, Richterin, Prophet, Politikerin, dem irritierten Zuschauer präsentierten und, angelehnt an theoretische Überlegungen von Hannah Arendt, danach unterschieden, ob eine bestimmende oder reflektierende Urteilskraft wirkt, ob also historische Phänomene bekannten Maßstäben zugeordnet werden oder zur Entwicklung neuer Maßstäbe anregen. KATHRIN KLAUSMEIER (Leipzig) stellte ihrerseits eine Längsschnittstudie vor, in der sie Geschichtslehrkräfte mehrfach interviewte, um unmittelbare und langfristige Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den Geschichtsunterricht zu erfassen. Die Interviewten bedauerten dabei eine Vernachlässigung von Urteilsbildung zugunsten stärker inhaltsorientierten Lernens, was an Rahmenbedingungen digitaler Lehr-Lern-Settings liegt, aber auch an speziellen Corona-Aufholprogrammen. Durch die vermehrten Internetrecherchen führen zudem viele Standardfragen des Geschichtsunterrichts inzwischen zur Übernahme gefundener Sachurteile statt zur Entwicklung eigener Positionen. Innerhalb des Projekts „Weltoffen Lernen“ erforschten ANKE JOHN und PATRICIA KLEßEN (Jena) die interkulturelle Kompetenz von Lehrkräften und Schulen. Sie diskutierten den Befund, dass die Lehrpersonen teilweise unsicher sind, plurale Werte in einem potentiell rechtspopulistischen Umfeld zu vertreten und auf Kritik von Schüler*innen an eurozentrischen Geschichtsbildern zu reagieren. Abschließend diskutierte CHARLOTTE BÜHL-GRAMER (Erlangen-Nürnberg) Urteilsfragen zur Geschichtskultur, die sich nicht nach Sach- und Werturteil kategorisieren oder auf Faktizitätsprüfung beschränken lassen. Historische Settings werden in Brettspielen einerseits willkürlich mit Spielsystemen kombiniert, diese geben aber stets vor, welche Wertmaßstäbe angelegt werden.

Diese letzte wie eigentlich auch alle anderen Sektionen machten darauf aufmerksam, dass aus Sicht der Geschichtsdidaktik eine disziplinäre Erweiterung der Auseinandersetzung mit historischem Lernen und geschichtlicher Bildung unabhängig von Ebenen und Reichweiten (nur) Sinn besitzt, wenn damit und zugleich über Kategorien und Faktoren kritischer historischer Urteilsbildung nachgedacht wird. Insgesamt ist zu begrüßen, dass nach drei Corona-Jahren die Geschichtsdidaktik an der kritischen Erkundung, ja Re- und De-Konstruktion ihrer existentiellen Begriffe weiterarbeitet, sich zugleich, während sie Schule und Unterricht nicht aus dem Blick verliert, erweitern und neue Partner gewinnen möchte. Auf der Münchener Tagung konnte dafür ein weiterer Schritt gemacht werden.

Konferenzübersicht:

Michele Barricelli (München): Begrüßung

Sektion A: Digitale Geschichtskultur. Geschichte und Historisches Lernen auf und mit Instagram

Astrid Schwabe (Flensburg): Chair

Christine Gundermann (Köln): Doing digital history? Herausforderungen der Analyse von Instagram-Kanälen

Hannes Burkhardt (Erlangen-Nürnberg): Kompetenzorientiert Geschichte unterrichten mit Instagram

Dario Treiber (Wuppertal): Emotionen bei der Rezeption von @ichbinsophieschol

Juliane Brauer (Wuppertal): Zeit und Raum digital. Überlegungen zur Dimensionierung „Digitaler Geschichtskultur“

Sektion B: Ernstfall Public History: Verhandlungen über geschichtsbewusstes Handeln

Moritz Pöllath (München): Public History – Applied History? ‘München 1938’ als Lehre und Botschaft im Diskurs zwischen politischen Akteuren und der Öffentlichkeit

Nicola Brauch (Bochum): Public History – Democratic Citizenship Education? Narrative in Geschichtslehrplänen und Geschichtsschulbüchern als Repräsentationen von Public History in freiheitlich-liberalen Demokratien

Philipp Bernhard (Augsburg): Postkoloniale Stadtrundgänge als Beispiel für eine „engagierte“ Public History

Sektion C: Agency in der Geschichtskultur und Öffentlichkeit – Translation von Handlungsfähigkeit zu Handlungsmächtigkeit

Oliver Plessow (Rostock): Kommentar/Moderation

Cornelia Chmiel (Berlin): Agency im geschichtskulturellen Wandel der Migrationsgesellschaft

Nina Reusch (Berlin): Historische Agency und Diskursfähigkeit fördern – am Beispiel der Bildung für nachhaltige Entwicklung

Jörg van Norden (Bielefeld): Verlust der Vergangenheits-Faszination und Trauma

Lale Yildirim (Osnabrück): Historische Agency und Diskursfähigkeit auf dem „Markt der Erinnerungen“

Sektion D: Lässt sich Geschichtsbewusstsein (noch) erforschen? Epistemologische Herausforderungen bei der Erforschung von Geschichtsbewusstsein

Sebastian Barsch (Kiel)/Martin Nitsche (Köln & Aarau): Einleitung der Sektion

Andreas Körber (Hamburg): Geschichtsbewusstsein: (nur) reif – modern – westlich?

Paul Zanazanian (Montreal): Historical consciousness and the comprehensive methodology: Towards operationalizing our historical sense-making for life orientation purposes

Julia Thyroff (Aarau): Besuchende in einer historischen Ausstellung. Aneignungsweisen im Spiegel prozessbegleitenden lauten Denkens

Hannah Röttele (Göttingen): Geschichtsbewusstsein fördern an außerschulischen Lernorten

Sektion E: „Zwei Seiten einer Medaille?“ – Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur aus praxistheoretischer Perspektive“

Holger Thünemann (Münster)/ Helen Wagner (Erlangen): Einführung in die Sektion

Achim Landwehr (Düsseldorf): Chronoferenzen in der Geschichtskultur

Sabrina Schmitz-Zerres (Münster)/Markus Bernhardt (Duisburg-Essen): Zeitpraktiken der Gegenwartsausdehnung in der Praxis der Schulbuchgestaltung

Helen Wagner (Erlangen): Vergangenheit als Zukunft? Praktiken der Zukunftsproduktion im Strukturwandel

Manuel Köster (Münster): Vorwärts in die verlorene Vergangenheit. Nostalgie als Zeitpraktik

Sektion F: Urteilsbildung zwischen methodischer Schematisierung und der Komplexität historischen Denkens

Daniel Münch (Jena): Einführung

Johannes Schmitz, Peter Starke (Jena): Urteilen ohne Geländer? – Strategien der Urteilsbildung im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten in Beiträgen zur DDR-Geschichte und Transformationszeit

Kathrin Klausmeier (Leipzig): „Das ist eine große Herausforderung, das digital hinzubekommen.“ – Urteilsbildung im Geschichtsunterricht während der Corona-Pandemie

Anke John, Patricia Kleßen (Jena): Was bedeutet es, interkulturell kompetent im historischen Urteil zu sein? Lehrkräfte im Umgang mit Diversität an Thüringer Schulen

Charlotte Bühl-Gramer (Nürnberg-Erlangen): Entscheidungs-Spielräume in der Geschichtskultur

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